Kalenderblatt November 2011

November 2011

Wabern - Neue Heimat für Vertriebene: Familien Neugebauer und Saul

Herta Saul, geb. Neugebauer berichtet: "Auch ich habe als kleines Mädchen von fast sieben Jahren die schreckliche Zeit der Vertreibung mitgemacht. Fest an Mutters Hand, mit dem Großvater und einer Tante mit ihrem fünfzehnmonatigem Säugling, binnen zwei Stunden aus dem Haus getrieben. 50 Kilogramm durften wir einpacken, dann ging es getrieben mit Stöcken über Stock und Stein. Ich selbst dachte an eine längere Reise, aber das Heulen der Erwachsenen ließ mich doch überlegen. Meine Puppe wurde mir weggerissen, die Russen riefen immer wieder "Urri, urri", dieses klingt heute noch in meinen Ohren. Meine Mutter wurde von zwei Russen von mir weggerissen, nur durch mein Schreien ließen sie los. Nach tagelanger Fahrt in Vieh- wagons mit großem Hunger kamen wir hier in Hessen unserer neuen Heimat an. Meine Mutter und viele dieser Frauen, die mit uns Kindern ohne Männer, ohne alles von Null wieder anfangen mussten, hätten den höchsten Orden bekommen sollen."

Herta Neugebauer erblickte im sudetenländischen Altvatergebirge das Licht der Welt (siehe Abbildung) [1]. Sie wurde 1938 in Nieder-Lindewiese (heute: Dolni Lipovä als Ortsteil von Lipova Lazni - Bad Lindewiese) im Kreis Freiwaldau (heute: Okres Jesenik) als erstes Kind des Lokführers Alois (*1912) und der Hausfrau Luise (*1915) Neugebauer, geboren. Bad Lindewiese war damals schon weit über die Grenzen als Kurort bekannt. Hier entwickelte Johann Schroth im 18. Jahrhundert seine Behandlungsmethoden der Kaltwasserkur verbunden mit der heute noch bekannten Schrothkur, einer Diät mit sogenannten "Trockentagen" [2]. Zusammen mit dem Nachbarort Gräfenberg gehörte es bereits in der Österreich-Ungarischen Monarchie zu den bekanntesten Kurorten.

Im April 1946 fanden dann jene Ereignisse rund um die Vertreibung aus der Heimat statt, die Herta Saul, geb. Neugebauer, seit langem zu Hause im Waberner Ortsteil Niedermöllrich, heute noch emotional wiedergeben kann. Obwohl oder gerade deswegen, weil sie damals erst sieben Jahre alt war, haben sich viele Bilder in ihr für immer eingeprägt: Die einmarschierenden Russen und die mit ihnen kommenden russischen Frauen in blauen Kostümen und Stiefel. Der Opa, der vor einer Russin kniet, das sich "vor ihm drehende blaue Kostüm" sauberbürsten muss und dabei geschlagen wird. Die Tante, die sich aus Angst vor Vergewaltigung im Kamin versteckt. Die Leinensäcke, in die das wenige Hab und Gut, was mit soll, hastig hineingestopft wird. Der Skianzug, das Samtkleid und der Mantel, die ihr übereinander angezogen werden, um möglichst viel an Kleidung mitnehmen zu können. Das Glockengeläute, als man mit Fuhrwerken zum Sammelplatz fährt und immer wieder die brutalen Gewehrkolben der Russen...

Ohne den Vater, der sich in russischer Gefangenschaft befand, wurde die eine Woche dauernde Reise ins Ungewisse in Viehwagons angetreten. Auch der erste Halt in Nürnberg bleibt Herta unvergessen: Die Wagontüren wurden zurückgeschoben und ein Schwarzer ("so etwas hatte ich vorher noch nie gesehen"), vermutlich US-amerikanischer Soldat - verschenkte Schokolade. Danach ging es weiter bis zum Zielbahnhof Korbach im hessischen Waldeck-Frankenberg. Großvater, Tante, Säugling Herta und ihre Mutter wurden vorerst in einer Schule einquartiert. Ungeziefer und Hunger waren ständig zugegen. Die Mutter arbeitete bei verschiedenen Bauern. Als sich keine Unterkunft fand, erfolgte schließlich die Zwangseinweisung bei einem Bauern (Familie Kondner) in Giflitz. Tante und Säugling kommen anderswo im Dorf unter. Kärglich eingerichtete 16m² nannte die Familie ab sofort ihr Zuhause. Herta, die bereits einige Monate in Nieder-Lindewiese die Grundschule besucht hatte, wurde erneut in die erste Klasse eingeschult. Im Jahr 1948 kehrte der Vater aus russischer Gefangenschaft zurück. 1949 wurde Schwester Monika geboren. Als der Vater in Wabern eine Anstellung bei der Bahn erhielt, zog man nach Wabern in die Ottostraße 23. Herta, nun bei ihrer Tante untergebracht, machte in Giflitz die Schule zu Ende und folgte. Kurz darauf trat Herta ihre erste Arbeitsstelle bei der Firma Undosa (Unterwäsche u.ä.) in Bad Wildungen an.

Bereits am 02.06.1953 begegnet Herta zum ersten Mal ihrem späteren Ehemann. Das Datum weiß sie ganz genau: Es war der Krönungstag von Elisabeth II. von England und man stand zufällig gemeinsam vor dem Schaufenster eines Elektroladens in der Bahnhofstraße und verfolgte das hochrangige Ereignis gebannt auf einem darin stehenden Fernseher. Es entwickelte sich eine von nun zahlreichen interkonfessionellen Beziehungen. Herta trat zum protestantischen Glauben über und 1957 erfolgte die Hochzeit mit Heinz Saul (*1933). Man zog in das bereits im Jahr 1950 von den Schwiegereltern in Niedermöllrich gebaute Haus, das nach der Hochzeit um- und ausgebaut wurde. Aus der Ehe gingen zwei Töchter, Petra (*1957) und Andrea (*1962) hervor. Heinz Saul arbeitete ca. 40 Jahre in der Zuckerfabrik in Wabern. Herta arbeitete in der Spinnfaserfabrik Mehler in Zennern, dann ca. zehn Jahre in einem Lebensmittelgeschäft in Niedermöllrich. Fünfzehn weitere Jahre für das Forstamt Fritzlar.

Einmal, Anfang der 90er-Jahre, fuhr sie mit ihrer Mutter in die alte Heimat. Die Mutter starb im Februar 2004 fast 90-jährig, da war der Vater schon fast 20 Jahre tot. Einen schweren Schicksalsschlag musste das Ehepaar Saul im März 2009 hinnehmen, als Tochter Petra, erst 51-jährig, völlig unerwartet und plötzlich starb. "Es gab auch viele schöne Zeiten", sagt Herta Saul, "aber alles noch mal erleben würde ich nicht wollen!"

[1] Landkarte aus: Eberhard J. Knobloch, »Sudetenland in 144 Bildern«, ISBN 3-8003-3025-3, © 2002 Verlagshaus Würzburg, Rautenberg
[2] Beobachtungen an erkranktem Vieh, das dann das Futter verweigerte, kaum trank und sich wenig bewegte, brachten Schroth auf die Idee, dieses Verhalten als Kur auf kranke Menschen zu übertragen.

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